Roman von Reinhard Strüven
Kindesentzug ist das Thema des zweitens Romans von Reinhard Strüven. In „Jul - Geschichte einer Suche“ erzählt der 1966 geborene Krefelder Autor aus dem Leben des Sozialpädagogen und Schriftstellers Michael, der mit der polnischen Germanistikstudentin Monika zusammenkommt und mit Anfang vierzig zweimal Vater wird, ein spätes und unerwartetes Glück.
Doch die Ehe zerbricht nach kaum zehn Jahren an den sehr gegensätzlichen Temperamenten und Weltsichten des Paars, und Monika setzt sich quasi über Nacht mit der knapp sechsjährigen Tochter Jul zunächst nach England, später nach Polen ab. Allein und ohne Nachricht bleiben Michael und der ältere Sohn Nik in Düsseldorf zurück.
Die Chronologie der Ereignisse aufbrechend wird aus der Perspektive Michaels berichtet. So vermischen sich Abschnitte von Erinnerungen über die gemeinsame Zeit als Familie mit solchen über die – schließlich erfolgreiche – Suche nach Jul und Monika und weiteren über einen langen Marsch durch die juristischen Instanzen in Deutschland und Polen im Kampf um das Sorge- und Umgangsrecht.
Eine über zwei Jahre hinweg hin- und herwogende Auseinandersetzung, die nicht nur Unmengen an Geld verschlingt, sondern auch zunächst die Basis für jegliche Übereinkunft zerstört. Erst nachdem Jul in Polen letztinstanzlich der Mutter zugesprochen wird, kommt es zu den ersten Schritten einer vorsichtigen Normalisierung, bevor der Autor seinem Roman noch eine unerwartete Wendung gibt.
Unterhalb dieses Plots erweist sich „Jul - Geschichte einer Suche“ aber vor allem als Porträt eines Mannes von mittlerweile rund fünfzig Jahren, der nicht nur wegen des zerstörten Familienglücks zutiefst mit dem Leben hadert. Aufgewachsen als ebenso behütetes wie auf akkurate Ordnung und Sparsamkeit getrimmtes Einzelkind in einem Einfamilienhaus am Rande der Stadt, erscheint er als oft mutloser und im tiefsten verunsicherter Mensch, der sich über Vieles zu beklagen hat.
Sein „Talent, immer das Schlechte in den Dingen zu sehen“ lässt ihn gegenüber anderen schnell misstrauisch werden und das Gefühl haben, übervorteilt und ungerecht behandelt zu werden. Die Welt ist für ihn – vom Straßenverkehr über den immer zu teuren Lebensunterhalt bis hin zu den sozialen Medien – meist gefährlich oder sogar feindlich, sodass er eine fast übermäßige Sorge dafür aufwendet, seine Kinder davor zu beschützen.
Durch die Kapitel zieht sich einerseits seine Selbstwahrnehmung, für außerordentlich viele Tätigkeiten kein hinreichendes Talent zu haben, und andererseits die Selbstbeschwörung, „dass er gut war, so wie er war“, und dass er seine aus einer Betrachtung von Gemälden Picassos gezogene Quintessenz beherzigen sollte: „Lebe. (…) Bewahre dir Größe, vor allem die in Gedanken. (…) Lebe unvollkommen und mit weißen Stellen auf jener Leinwand, die deine Biografie ist!“
In all dieser Fokussierung auf sich selbst bleiben ihm hingegen die Motive und Ängste Monikas sowie ihre Vorstellungen von einem gelungenen Leben verschlossen. Und auch ihr wieder aufgenommenes Leben in ihrer polnischen Heimatstadt bleibt für ihn einzig ein „Versteckspiel“. So kann er nicht anerkennen, ja gar nicht erst begreifen, dass sein dringender Wunsch, sie solle nach Deutschland und in seine Nähe zurückkehren, ihr offenbar viel mehr abverlangt, als er sich vorzustellen vermag.
Das sich anbahnende Szenario seltener Besuchsurlaube hingegen erscheint ihm schließlich nur als ein fahles Abbild von dem, was er einstmals erfahren hat: „Die fünfeinhalb Jahre mit beiden Kindern, das war seine Zeit gewesen, seine große Zeit im Leben, erst im Nachhinein hatte er das verstanden.“
(TH)
Reinhard Strüven: Jul - Geschichte einer Suche. Roman. 162 Seiten. Woobooks Verlag 2023.