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Zugunruhe

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Roman von Levin Westermann

Der 1980 in Meerbusch geborene, seit langem in der Schweiz lebende Levin Westermann ist bisher vor allem durch seine Lyrik sowie einen Essayband bekannt. Jetzt hat der Autor, der unter anderem 2022 mit dem Deutschen Preis für Nature Writing ausgezeichnet wurde, seinen ersten Roman veröffentlicht.

In „Zugunruhe“ erhält ein Schriftsteller den Auftrag für ein westfälisches Literaturfestival einen Text zum Festivaltitel „Die Landschaft zur Sprache bringen“ zu schreiben. Er reist in die Region, beschäftigt sich mit Geschichte und vor allem Geologie, erkundet die dortige Landschaft in Texten und Wanderungen. Zurück in seiner Schweizer Heimat zieht die Auseinandersetzung des Ich-Erzählers mit dem Thema immer weitere Kreise und erfasst die ganz grundsätzliche Frage, wie der Mensch mit der Natur umgeht. Oder besser gesagt: Wie der Mensch auf allen Ebenen daran arbeitet, die Natur durch totale Verwertung und Vernutzung innerhalb eines „tumorartigen Wachstums“ zu vernichten. Es gelingt dem Schriftsteller scheinbar nicht mehr, den beauftragten Text zu schreiben, aber in Wirklichkeit ist natürlich dieser Roman als Ganzes der Text.

Es geschieht nicht allzu viel, die Handlung ist reduziert und es gibt auch nur wenige nacherzählte Dialoge: Gesprächsfragmente mit einer gleichgesinnten Freundin. Dafür ist das in diesem großen Gedankenstrom zusammengeführte Wissen umso gewichtiger. Teils wird es in der Auseinandersetzung mit einer ganzen Reihe von internationalen Denkerinnen und Denkern über Zustand und Zukunft der Welt vermittelt. Teils speist es sich aus persönlichen Erinnerungen, zuweilen in Verbindung mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen. Damit ist man gedanklich so hinreichend beschäftigt, dass man größere Handlungsstränge nicht vermisst.

Eigen & radikal und kein „Content für die Mühlen des Betriebs“

Der extrem pessimistische Blick auf das Anthropozän, die gravierende Desillusion einerseits und andererseits der zuweilen verzweifelte Zorn, der zwischen dem Wunsch nach einem Ende der Menschheit und manchmal doch noch aufflackernder Hoffnung auf einen radikalen Umschwung changiert, ist in der Lektüre zuweilen schwer auszuhalten. Aber zum einen gibt es wenig Anlass, dem Ich-Erzähler hinsichtlich der reichhaltigen Faktenlage Übertreibung vorzuwerfen. Und zum anderen sind seine Gedankengänge in einer so außerordentlich klugen, pointierten und zugänglichen Sprache gefasst, dass die 196 Seiten bei weitem nicht zu viel sind - umso weniger, wenn man die Effekte betrachtet, die das Buch nachhaltig auszulösen vermag.

Denn: Fühlt man sich nach dem Lesen besser? Sicher nicht. Wäre es anders, könnte man sich also – vielleicht mit dem selbstzufriedenen Gefühl, sich einmal tapfer den Problemen der Welt gestellt zu haben – wieder freudig ins allgemeine Getümmel stürzen, ohne dabei wenigstens die starke Irritation zu empfinden, dass hier etwas massiv falsch läuft, dann hätte Westermann wohl nur ein Buch geschrieben, das sein Ich-Erzähler verachtet hätte.

Es wäre dann Erfüllungsprosa im Sinne einer – von Westermann zitierten - kulturjournalistischen Forderung, nach der die Kunst heute doch endlich mal wieder den gesellschaftlichen Konsens stören sollte, statt so woke und sensitiv zu sein. Solche „Störer-Kunst“ aber wäre für den Erzähler nur eine „Ersatzhandlung, ein Schauspiel mit Theaterblut, Content für die Mühlen des Betriebs“. Und dies umso mehr, solange derselbe Betrieb die Störaktionen jener „Letzten Generation“ kritisierte, die physisch doch versuche, „den gemütlichen Konsens zu crashen“.

Um als solcher „Content“ vernutzt zu werden, ist „Zugunruhe“ – glücklicherweise – jedoch viel zu eigen und in seiner Dringlichkeit radikal.

(TH)

Levin Westermann: Zugunruhe. Roman. 196 Seiten. Matthes & Seitz Berlin 2024.

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