Roman von Sascha Reh
In „Biotopia“ erzählt Sascha Reh von einer Welt, die von den Errungenschaften und Versäumnissen unserer Gegenwart geprägt ist: Die Auswirkungen der Klimakrise gefährden die Versorgungssicherheit, die Schere zwischen Arm und Reich klafft auseinander, Menschen werden umfassend be- und verwertet und ihr Geist auf neuartigen Speichermedien festgehalten. Die Nachrichten sind unzuverlässig und doch Grundlage dessen, was die Bevölkerung über den Zustand der Welt weiß.
In dieses Setting, das die Dystopie nach Deutschland holt, wirft der Autor Malu Jacobsen. Die an Arthrose leidende Mitfünfzigerin ist sie eine echte Ausnahmeerscheinung in einem Genre, das vor jungen, agilen Hauptfiguren nur so strotzt.
Malu soll die Menschenrechtslage in Biotopia, der hochmodernen Vertikalfarm auf dem Tempelhofer Feld, untersuchen. Doch sie ist nicht nur beruflich involviert. Die Farm ist der letzte bekannte Aufenthaltsort ihrer Tochter Golda, von der sie seit Jahren nichts mehr gehört hat. Sie ist nicht das einzige Kind, dessen Lebensentwurf Malu zu schaffen macht. Auch mit ihrem Sohn Konrad, der gerade achtzehn geworden ist, gerät sie immer häufiger aneinander.
Die Verbindung von Dystopie und Familienroman erdet Rehs Buch. Wie Malu auf ihre erwachsenen Kinder zugeht, mit ihnen hadert, versucht, ihnen gleichzeitig Grenzen aufzuzeigen und sie zu schützen, ist rührend und aufwühlend. Immer wieder muss sie sich ihren Vorurteilen stellen, die von ihrer gut situierten Position in der Berliner Gesellschaft geprägt sind.
Aber nicht nur die komplexe Hauptfigur macht den Roman lesenswert. Rehs cineastischer Erzählstil vermittelt Streitgespräche und ruhige Spaziergänge genauso packend wie Actionszenen und überrascht die Lesenden immer wieder mit rasanten Wendungen. Kein Wunder, dass sein Roman zu einem Ende kommt, das ebenso unerwartet wie folgerichtig erscheint.
Sascha Reh: Biotopia. Schöffling & Co., Frankfurt 2024.
Am 13. November ist Sascha Reh bei einer WESTWERK-Doppellesung im Niederrheinischen Literaturhaus zu Gast. Der Träger des Niederrheinischen Literaturpreises 2011 kommt dabei mit der Autorin Zara Zerbe ins Gespräch, die mit „Phytopia Plus“ (Verbrecher Verlag) eine ähnlich beängstigende und doch empathische Zukunftsvision entworfen hat.