Gedichte von Marieke Lucas Rijneveld
Seit er 2020 für seinen Roman „Was man sät“ den International Booker Prize erhielt, ist Marieke Lucas Rijneveld weit über die Niederlande hinaus bekannt. Nach drei Romanübersetzungen wurden nun auch die Gedichte des nichtbinären Schriftstellers ins Deutsche übertragen, und zwar von niemand Geringerem als der Mönchengladbacher Übersetzerin und Autorin Ruth Löbner.
Der zweisprachige Gedichtband, der bei Suhrkamp erschien, umfasst die Lyrikbände „Kalbskummer“ (2015) und „Phantomstute“ (2019). In prosahaft langen Strophen aus mal drei, mal vier Versen erkundet Rijneveld Schmerz, Tod und Trauer, die Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung, nach Körpern und sozialen Rollen, die sich keiner Norm unterwerfen müssen. Spröde Naturbilder finden in seiner Lyrik ebenso Platz wie Fahrradketten, Heizungsrohre und Fieberthermometer.
Die lyrischen Figuren, die sprechen, angesprochen werden oder über die gesprochen wird, zeigen sich in verschiedenen Entwicklungsstadien. Mal sind sie kindlich, voller Unverständnis für die Erwachsenen wie in „Hohl genug, um ein Echo zu verbergen“ oder beunruhigt und fieberrasend wie in „Wachstumsschmerz“. Als Jugendliche und junge Erwachsene treten sie auf mit dem Verlangen, Regeln und Normen zu unterlaufen, ohne Zurückweisung zu erfahren. Sie zeigen sich übermütig in „Die Schulmilchtrinker“, aber auch ängstlich und verloren in „Nachtschaden“. Als Erwachsene schwanken sie zwischen Verklärung („Zeeland“) und Nüchternheit („Mikadoabend“).
Auf diese Weise schafft sich Rijneveld einen literarischen Raum, der seine ganz eigene Lebenswelt widerspiegelt, und findet gleichzeitig ungewöhnliche Sprachbilder für Erfahrungen, von denen wenige von uns im Laufe eines Lebens verschont bleiben.
(MJ)
„Der Suhrkamp Verlag hat die beiden Lyrikbände jetzt gemeinsam in einer zweisprachigen Ausgabe publiziert; in überaus gelungener, weil feinfühliger, aber doch eigensinniger Übersetzung von Ruth Löbner.“ Christian Metz, FAZ, 16.11.22
„Ruth Löbner greift insgesamt wohldosiert in den Text ein. Dadurch schafft sie es, den jugendlich-frischen, aber auch ernst-antiquierten Rijneveld-Sound ins Deutsche zu transportieren, ohne dass die Gedichte an Authentizität verlieren. Im Gegenteil. Die Verse auf Deutsch zu lesen, löst dieselben Gefühle und Reaktionen aus wie das Original. Löbner gelingt ein Übersetzungsspagat. Und das ist angesichts des eigenwilligen Stils von Marieke Lucas Rijneveld eine beeindruckende Leistung. Sebastian Fobbe, TraLaLit, 7.9.22
Marieke Lucas Rijneveld: Kalbskummer. Phantomstute. Aus dem Niederländischen von Ruth Löbner. Zweisprache Ausgabe. Suhrkamp, Berlin 2022.