Buchfoto Thomas Poehler Der Berg der Stadt

Die Stadt im Berg

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Kunst & Literatur-Crossover von Thomas Pöhler

Manche Bücher widersetzen sich der Einordnung in Schubladen, und das sind oft die besonders interessanten. Der Krefelder Bildende Künstler Thomas Pöhler, erster City Artist-Preisträger der Stadt, arbeitet in seinem Werk schon seit langem mit der Einbindung von Texten und Textfragmenten. So entstehen Gesamtkunstwerke, in denen sich Fotografie, Konzeptkunst, Installation und Sprache gegenseitig stärken und bereichern.

Jetzt hat er ganz frisch ein im besten Sinne eigenartiges künstlerisches und literarisches Buch vorgelegt, das den Inrather Berg zum Thema hat: diese höchste Erhebung Krefelds, erbaut aus den Trümmern der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Stadt und zahllosen weiteren Abbruchmaßnahmen bis in die späten siebziger Jahre hinein.

Pöhler hat dort bei seinen zahlreichen Besuchen einen mysteriösen Container entdeckt, den ein Schild als Außenstelle des Stadtarchivs ausweist. In diesem Container fand er unterschiedlichste Unterlagen über den Berg:

Zunächst einen Schulaufsatz vom Mai 1947, in dem die Untersekundanerin Pauline Koch von einer zunächst feierlichen, dann zunehmend obskuren und schließlich eskalierenden „Grundsteinlegung“ des Schuttberges erzählt. Dieser Aufsatz in der noch fast kindlichen Handschrift ist als Faksimile abgedruckt, inklusive der Korrekturen und Kommentare des Lehrers.

Der von einem Unbekannten stammende zweite Text beschäftigt sich mit den zahlreichen am und im Berg abgelegten Betonbrocken, aus denen Moniereisen ragen. Diese Eisenstäbe entwickeln nach seiner Beobachtung ein organisches Verhalten, verbiegen und verformen sich wie natürliche Äste. Aus der Rückerinnerung an den Erfinder dieser Eisen, den französischen Gärtner Joseph Monier, entsteht eine dystopische, fast apokalyptische Vision von der Zukunft der aus Stahlbeton gebauten Städte.

Das dritte Kapitel schließlich fasst einen per E-Mail ausgetragenen Streit zwischen dem Betreiber der Stadtarchiv-Außenstelle Falk Stork und dem ehemaligen Deponieverwalter Siegfried Kuben zusammen. Stork will in Probebohrungen Objekte zur Erzählung der Stadtgeschichte bergen, Kuben verteidigt den Trümmerberg als unantastbaren aus Natur und Schutt entstandenen großen Organismus.

Dazu gibt es zahlreiche Fotos von den Moniereisen, von steinernen Bruchstücken mit rätselhaften Inschriften und auch von der bisher unbekannten Außenstelle des Stadtarchivs. Man könnte (sollte) über dieses Buch einen langen Aufsatz mit vielen Interpretationsansätzen schreiben. Dabei müsste man herausheben, wie es gelang, dass dieser Schulaufsatz ein wahres Meisterwerk der Authentizität wurde. Auch, dass die wenigen Seiten zu den Moniereisen einen ganzen spannenden Roman ersetzen, der sich nun in den Köpfen der Leser:innen entwickeln kann. Und nicht zuletzt, dass der Streit zwischen dem Archivar und dem Deponieverwalter auch als grandioser Streit zwischen Wissenschaft und Kunst zu lesen ist. Ach ja, und über den Witz und Humor, und die Selbstironie, die dieses Buch durchziehen, wäre dann auch noch ein Kapitel zu schreiben.

Man kann es aber auch kurz machen und feststellen, dass dieses Buch ein herausragendes Beispiel für die große Kunst ist, mit Bruchstücken der Realität eine ganz eigenständige fiktionale Welt zu schaffen, von der man trotz oder gerade wegen der zahlreichen grotesken Geschehnisse in ihr nicht mehr sagen kann, sie sei weniger glaubwürdig als unsere alltägliche Wirklichkeit.

(TH)

Thomas Pöhler: Die Stadt im Berg. o.V. 2024
Nur hier zu erwerben: Der andere Buchladen, Bockumer Buchhandlung und im Krefelder Kunstverein während der zugehörigen Ausstellung vom 13.4.-9.6.2024 (Eröffnung: 12.4.24, 19 Uhr)

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