Roman von Mechtild Borrmann
Alles beginnt mit einem Aktenkoffer, scheinbar achtlos zurückgelassen in einem Kasseler Café im Dezember 2000. In ihm befinden sich als Feldpost gekennzeichnete Briefe von einem Richard Martens an eine Adele Kuhn aus den Jahren 1938 bis 1944. Adele war während der letzten Kriegsjahre auf einem Hof bei Paderborn einquartiert; nach Kriegsende verliert sich jede Spur von ihr.
Cara Russo, Rechtsanwältin und Finderin des Aktenkoffers, geht den Briefen nach, lernt Richard Martens kennen und stellt fest, dass dessen Schwester in der Kasseler Villa wohnt, die früher den Kuhns gehörte. In einem Zusammenspiel aus ihren Recherchen, Richards Erinnerungen und Szenen aus den Jahren 1935 bis 1945 aus Sicht von Adele und ihrem Vater Gerhard entfaltet sich dabei eine Geschichte, die weit über Jugendliebe und Hausverkauf hinausgeht.
Borrmann versteht es, in beinahe jedem Kapitel eine neue Facette, eine neue Wendung ins Spiel zu bringen. Das gilt nicht nur für die ungewöhnliche Dreiecksbeziehung zwischen Adele, Albert und Richard. In der Handlung um Gerhard Kuhn, der wegen Nicht-Kooperation mit den Nazis seine Firma verliert, beschreibt sie Vertreibung als einen schleichenden Prozess, der die Lebenseinstellung der Betroffenen verändert.
Der Logistik-Unternehmer geht nach seiner Enteignung mit Frau Katharina ins Exil nach Frankreich, um dort das Ende der Nazi-Herrschaft abzuwarten, das er in greifbarer Nähe wähnt. Als er Jahre später um die Einreise nach Portugal kämpfen muss, erzählt Borrmann eindrücklich von seiner Transformation:
„Eine Art Vakuum entstand, eine Stille, in der es kein Bleiben und kein Gehen gab. Zum ersten Mal dachte er: Ich bin auf der Flucht. Mit Stolz und erhobenem Kopf, so schien es ihm, hatte er Deutschland verlassen und als freier Mann in Frankreich gelebt, aber jetzt lief er weg. Jetzt war er ein Flüchtling. Er blickte erneut auf die Uhr. Der Minutenzeiger sprang vor, und er fühlte sich gedemütigt.“
Obwohl Russo viele Zusammenhänge aufdeckt und Unwahrheiten ans Licht bringt, haben am Ende nur die Lesenden ein vollständiges Bild davon, was den Kuhns passiert ist. So gelingt es Borrmann, mit ihrem Schreiben die Lücken, die im Leben unvermeidbar sind, zu füllen, ohne sie zu übertünchen.
(MJ)
Mechtild Borrmann: Feldpost. Droemer Verlag, München 2022.